Erkenntnisse der heutigen Gehirnforschung und unser Menschenbild. Vortrag von Dr. Hauber für die gesamte Q 11 am 22. Februar 2017.

„Der Neurophysiologe Benjamin Libet führte bereits ab 1980 erste Experimente durch: Testpersonen wurden aufgefordert, eine Taste niederzudrücken, und zwar, wann immer sie es wollen. Gleichzeit wurde von den Probanden ein EEG gemacht. Libet verglich nun den Zeitpunkt, zu dem das sogenannte elektrophysiologische Bereitschaftspotenzial im EEG auftritt, das der Ausführung einer Handlung vorausgeht, mit dem Zeitpunkt, zu dem die Person den bewussten Entschluss fasst, die Taste zu drücken. Es zeigte sich, dass das sog. Bereitschaftspotenzial 0,3 Sekunden vor der bewussten Intention einsetzte (und diese wiederum geht der Reaktion selbst um circa 200 Millisekunden voraus). Unter dem Bereitschaftspotenzial versteht man ein ableitbares elektrisches Potenzial, das die unbewusste Einleitung willentlicher Bewegungen auf der neuronalen Ebene anzeigt.

Nach diesen Versuchsergebnissen scheint es, als sei die Handlungsentscheidung schon gefallen, bevor die bewusste Intention ausgebildet wird. Somit kann der Wille zur Handlung nicht die kausale Grundlage der Handlungsentscheidung sein. Bewusste Willensakte hätten dann ihren Ursprung in einem vorbewussten Hirnprozess bzw. der bewusste Willensakt wäre nur noch eine nachträgliche Begleiterscheinung. Der Hirnforscher Wolfgang Prinz hat dies auf die prägnante Formel gebracht: „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“

Libet, ein gläubiger Katholik, schlug dann folgendes vor: „Willentliche Handlungen“ werden zwar unbewusst initiiert, können aber Gegenstand bewusster Kontrolle sein.  Der Wille wäre demnach kein Initiator, sondern eventuell nur ein Zensor. Das unbewusste Gehirn würde sozusagen unsere Handlungen vorschlagen, doch das bewusste Gehirn könnte dies noch kontrollieren.

Der Hirnforscher Gerhard Roth schrieb 2010 zu den Versuchen von Libet:

„Dem Sturm der Entrüstung von philosophischer Seite und viel fachlich-methodischer Kritik begegneten Neurobiologen mit neuen Experimenten, in denen es auch um komplexere Entscheidungen ging. Das Ergebnis war dasselbe: Bewusste willentliche Entscheidungen werden durch unbewusste Hirnprozesse vorbereitet.

Allerdings muss dies nicht heißen, dass das Nachdenken und Abwägen von Alternativen keinerlei Rolle spielen. Jedoch gilt auch hier: Was mir dabei einfällt und zu welchem Ergebnis ich komme, wird von Netzwerken in meinem Gehirn determiniert.

Was sollte daran schlimm sein? Die Eigenschaften dieser Netzwerke werden festgelegt durch die Gene, die frühkindliche Prägung und die späteren Erfahrungen. Die beiden ersten Faktoren scheinen dabei viel mächtiger zu sein als der dritte Faktor, sie bilden den Kern unserer Persönlichkeit. Wir handeln als erwachsene Menschen im Rahmen dieser Persönlichkeit … Das Gefühl, bei meinen Handlungen frei zu sein, bedeutet, nach meinen Erfahrungen zu handeln und nicht auf Grund eines äußeren oder inneren Zwanges.“  Quelle: Focus 10/2010, S. 62

Dieser kurze Auszug aus dem ausführlichen Skript, das Dr. Hauber den Schülerinnen und Schülern sowie allen Kollegeninnen und Kollegen, die seinem Vortrag lauschten, überließ, zeigt eindrucksvoll, welcher interessanten Fragestellung der Dozent in den rund drei Schulstunden nachging. Umfragen kurz nach der Veranstaltung zeigten, dass es dem Referenten gelang, seine Zuhörer nachhaltig zu beeindrucken. Er schaffte es, auch schwierige Sachverhalte so eindringlich und anschaulich zu präsentieren, dass jeder Schüler sie verstehen konnte. Auf diese Weise konnte eindrucksvoll ein wesentlicher Lehrplanstoff der Fächer katholische/ evangelische Religionslehre/ Ethik und Biologie der 11. Jahrgangsstufe abgedeckt werden, der den Schülern allerdings auf seinem aktuellsten Stand präsentiert wurde, was im herkömmlichen Unterricht überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Besonders imposant waren die Ausführungen über die Forschungen im Bereich der künstlichen Intelligenz.

Herr Hauber zeigte aber auch auf, dass die Ethik und damit auch der Glaube aufgrund des neuen Wissens über die Struktur des menschlichen Geists nicht nur nicht ihren Stellenwert verlieren, sondern vielmehr einen sehr wichtigen Platz in der Welt einnehmen werden. Denn: „Die Suche nach Antworten auf die Sinn-Frage und die Ethik-Fragen ist nicht nur berechtigt, sondern sie erscheint sogar entscheidend für die Zukunft unserer Welt. Überlegen Sie: Wird die sich bezüglich Wissenschaft und Technik schnell weiterentwickelnde Welt, wenn Sie einmal 50 oder 80 Jahre alt sein werden, besser oder schlechter als heute sein? Was bringt die Zukunft aus der Sicht der Gehirnforschung? Weil jede Technik prinzipiell ambivalent ist und jede Wissenschaft und Erkenntnis zum Guten oder Schlechten verwendet werden kann, hängt die Zukunft der Welt entscheidend von der Ethik der Menschen ab. Alles deutet darauf hin, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt mehr verändern wird als in den vergangenen 2000 Jahren. Der Mensch wird ungeahnte Möglichkeiten an die Hand bekommen, diese Welt zu gestalten, ja in seine eigenen Gene und in sein Gehirn einzugreifen.

Die große, entscheidende Frage dabei ist: Wird der Mensch weise genug sein, mit diesen gewaltigen neuen Möglichkeiten richtig umzugehen – oder wird er das nicht sein? Wird er diese neuen Möglichkeiten vorwiegend zum Wohl des Menschen einsetzen oder zum Schaden der Menschheit? Wenn skrupellose Egoisten oder totalitäre Staaten oder machtbesessene Terroristen die zukünftigen Mittel des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in die Hand bekommen und zum Negativen verwenden, dann könnte das in einer Megakatastrophe, ja mit dem Ende der Menschheit enden.“

(Skript Dr. Hauber)